ANDERS – EINFACH MENSCH

Anders oder Gleich

Anders ist die Wahrnehmung, das Verarbeiten von Informationen, die Bewegungskoordination und damit das Anpacken von Arbeit, das Lernen von Schulstoff und der Umgang mit Mitmenschen.

 

Gleich sind die Grundbedürfnisse, nach Zuneigung, Anerkennung, Teilhabe an Schule, Beruf und Familie und am Erhalt eines selbstbestimmten, zufriedenen Lebens.

 

Integration oder Separation

Integration in Schule und Beruf gelingt unter Berücksichtigung der autistischen Besonderheiten oft sehr gut. Dafür braucht es Bereitschaft, Wissen und Ressourcen.

 

Separation ist manchmal eine Erlösung vom Zwang gleich sein zu müssen und sich im Alltag verstellen zu müssen. Es kann Selbstverletzung und Fremdgefährdung verhindern. Es ermöglicht eine umfassende Pflege im Alltag. Es lässt individuelle und intensive Schulung zu. Aber kein Autist wünscht sich, dauerhaft separiert zu werden. Die allermeisten Autisten verfügen über ein gutes Denkvermögen und möchten eine angemessene Teilhabe am Alltag leben dürfen.

 

Genialität oder Behinderung

Genial sind oft die analytischen Fähigkeiten, die Tiefe der Empfindungen, die Schnelligkeit im Erfassen von Details und das überragende Spezialwissen. Viele Autisten sind mindestens normalbegabt, haben aber nicht die Möglichkeiten, es dann zu zeigen, wenn es drauf ankommt. Sie werden immer wieder als kognitiv behindert eingestuft, obwohl sie es bei Weitem nicht sind.

 

Behinderung ist Autismus nur allzu oft, wenn es um die Teilhabe am normalen Leben geht. Die übersteigerte Wahrnehmung macht empfindlich gegenüber Licht, Lärm und Berührung. Die Detail fokussierte Wahrnehmung verhindert manchmal das adäquate Erfassen von Zusammenhängen in der geforderten Zeit. Das primäre Verstehen von Sprache im wortwörtlichen Sinn und das zu späte Erkennen von Mimik, Gestik und Intonation verhindert eine schnelle und gezielte Kommunikation. Arbeitslosigkeit, Schulausschluss, Fehldiagnosen und zerbrochene Familien sind leider für Viele Alltag.

 

Hochsensibilität oder Gefühlsblindheit

Hochsensibilität hat jeder autistische Mensch in unterschiedlichsten Gebieten und Ausprägungen. Es bedeutet einfach ausgedrückt, weniger oder keine Filter zu haben, um Wahrnehmungen auszublenden oder abzuschalten. Das führt zu einer rasanten Verarbeitungsleistung von jedem Detail auf allen Sinneskanälen und damit zu einer permanenten Überforderung. Die Reaktionen darauf sind vielfältig und unterschiedlich. Rückzug, Aggression gegen sich oder andere, pausenloses Reden, kein Blickkontakt halten können und Abneigung gegen Berührung sind nur einige von Vielen.

 

Gefühlsblindheit ist der meistgehörte Vorwurf an Menschen mit Autismus. Da die Kommunikationsfähigkeit anders verläuft ist das vordergründig verständlich, aber es entspricht nicht der Wahrheit. Die meisten haben eine überragende Sensitivität gegenüber ihren Mitmenschen. Aber es fehlt dafür der sprachliche Ausdruck und eine zeitlich adäquate Reaktion auf das Wahrgenommene. Sprache wird zuerst nur über die Worte erfasst, das Lesen von Mimik und Intonation wird nicht intuitiv erworben und muss darum kognitiv erlernt werden, und bleibt dadurch immer irgendwie falsch.

 

Tiefgreifende Entwicklungs­störung oder Modediagnose

Tiefgreifende Entwicklungsstörung ist ein hässlicher Begriff, aber er wird im ICD-10 unter Autismus so definiert. Tiefgreifend ist eine andere Wahrnehmung immer, alle Lebensbereiche werden davon berührt. Kommunikationsprobleme greifen tief in soziale Interaktionen ein und führen laufend zu Missverständnissen und Verurteilung. Die Persönlichkeit des autistischen Menschen ist genauso bunt und vielfältig wie die eines jeden anderen auch. Gestört ist eigentlich nur unser heutiger Lebensstil: Zu laut, zu hell, zu schnell, zu viel, zu früh, zu brutal, zu ungerecht. Wäre das alles nicht, so gäbe es noch immer Autismus, nur könnten die Betroffenen besser damit leben und sich integrieren – aber alle andern auch.

 

Modediagnose ist es vielleicht. Es ist Mode geworden darüber zu schreiben, zu reden, Filme zu drehen und es einseitig und verzerrt darzustellen. Autistische Menschen mögen das alles nicht. Es erschwert ihnen den Zugang zu einem unauffälligen und damit ausgeglichenen Leben. Man nimmt an, dass sie immer genial, begabt und verschrobene Sonderlinge sind. Dabei sind die meisten mitten unter uns und führen ein ruhiges und unaufgeregtes Leben, kämpfen still mit ihren Schwierigkeiten und leiden unter den ihnen aufgezwungenen Attributen.

Autismus ist ein Schimpfwort geworden und viele wollen darum ihre autistische Art nicht annehmen. Eltern verstecken die Diagnose ihrer Kinder und verursachen dadurch neues Leid, weil keine Unterstützung möglich ist. Ärzte haben Angst die Diagnose zu stellen, wollen «keinen Stempel aufdrücken». Viele finden die Diagnosen fragwürdig und fragen sich, ob ein angepasster Umgang überhaupt nötig ist. Damit wird das Leid von Autisten zusätzlich erhöht.

 

Erfahrung

Inzwischen haben wir über 200 autistische Menschen beraten, betreut und begleitet. Das jüngste Kind mit 6 Jahren, der älteste Mensch mit 67 Jahren. Es sind wunderbare Menschen mit individuellem Charakter, unterschiedlichem kognitiven Potenzial, den verschiedensten Lebensumständen in allen Schultypen und Berufen.